„Die Toten“ ziehen Christian Kracht nach Japan

Mit fettigem Seitenscheitel und Outdoor-Zweireiher als leicht angeschlagener Intellektueller verkleidet betritt Christian Kracht die Bühne des Hamburger Schauspielhauses. Er liest aus seinem Roman „Die Toten“, genau von einem Post-It zum nächsten. Wahrscheinlich innerlich kichernd hat sich der Inszenierungskünstler Kracht einen besonders brisanten Abschnitt herausgepickt: Ein japanischer Junge masturbiert, sich an einem Baum reibend, während er die Trauer seiner Eltern in Anbetracht seines Ablebens imaginiert. Verirrte Zuschauer würden wahrscheinlich trotz der angenehmen Kulisse und der äußerlich biederen Darbietung nun den Raum verlassen.

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Ein Nachtrag zur Lesung von Christian Kracht
am 25. Oktober 2016 im Hamburger Schauspielhaus.

Wie gewohnt versetzt der Schweizer Autor Leser und Zuhörer in „Die Toten“ in einen historischen Kontext, für den post-truth bzw. postfaktisch, das Wort des Jahres 2016 des Oxford Dictionary, treffend scheint. Während die Reise in „Imperium“ zum Bismarckarchipel führte, bewegt sich der Plot in „Die Toten“ in der Filmindustrie der 30er-Jahre, zwischen Tokio, Berlin und Hollywood. Kracht bedient sich mit Siegfried Kracauer oder Charlie Chaplin an Größen jener Zeit und lässt sie zusammen mit neu kreierten Figuren über einen Flickenteppich aus historischen und fiktiven Ereignissen stolzieren. Wichtiger als der Inhalt des Romans wirkt jedoch seine Form, ähnlich wie bei Krachts Auftritt als Schriftsteller. „Die Toten“ folgt einer selbst auferlegten Struktur, der des japanischen No-Theaters: „Das Essentielle am No-Theater sei das Konzept des jo-ha-kiū, welches besagt, das Tempo der Ereignisse solle im ersten Akt, dem jo, langsam und verheißungsvoll beginnen, sich dann im nächsten Akt, dem ha, beschleunigen, um am Ende, dem kiū, kurzerhand und möglichst zügig zum Höhepunkt zu kommen.“ Eine eventuell kritisierbare, zunächst flach gehaltene Spannungskurve wird somit zum Prinzip. Während sich die Handlung um den Schweizer Regisseur Emil Nägeli, der sein Glück in Japan versucht, langsam entwickelt, verteilt Kracht im gesamten Roman kleine Details, die zur Suche nach etwas Größerem anregen, aber den Leser meist im Dunkeln zurücklassen. Ein lilafarbener Bleistift findet den Weg von Berlin nach Tokio, ein Golfball zeigt die Inschrift „Veritas“ und ein gehauchtes „H“ oder „Hah“ zieht sich durch die „krachtianischen“ 30er-Jahre und lädt zu Vermutungen ein, was der Buchstabe nach sich ziehen wird.

„Und die Vergangenheit, sie war immer interessanter als die Gegenwart“, so die letzten Worte von Kracht auf der Bühne des Schauspielhauses. Er ist beim zweiten Post-It angekommen.

,,Die Toten“ ist im September 2016 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. 

2 Kommentare

  1. Ich bin eigentlich ein Fan von Krachts Prosa, aber dieser Romanließ mich ratlos zurück. Ich meine, die Kracauer-Eisner-Episode war tricky, es gab in dem Buch wahnwitzige Szenen, doch es dünkte sich das ganze zu erlesen. Vielleicht muß ich das Buch noch einmal durchgehen.

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    1. Zu erlesen oder erhoben ist es ganz sicher! Ich gebe dir Recht, sehe aber genau dabei den geschniegelten Kracht vor mir, kann also den Autor nicht vom Text trennen, und freue mich darüber, wie er ironisch und absichtsvoll nichts und alles aussagt. Auf irgendeiner Ebene hat das wieder Tiefe in meiner Welt. Und wenn es dann noch nach Japan geht, bin ich erst recht dabei. Beste Grüße!

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